Wünsche erraten
Jan war froh endlich im Auto zu sitzen und dem Urlaubsziel entgegenzufahren. Die Tage vor dem Urlaub waren wieder sehr stressig gewesen. Svenja saß recht wortkarg neben ihm im Auto. „Willst du wirklich so früh losfahren?“ – war ihre häufige Frage vor dem Start gewesen.
„Bist du müde, willst du Pause machen und Kaffee trinken?“ – das war seit geraumer Zeit alles, was er von ihr hörte. Jan wollte alles nicht. Er war froh, dass er gut voran kam und sein Tempo halten konnte. Als Jan auch an der nächsten Raststätte vorbeifuhr, wurde Svenja plötzlich sehr ärgerlich. Sie schimpfte mit ihm, dass sie schon seit geraumer Zeit eine Pause machen und Kaffee trinken wollte. Er interessiere sich aber überhaupt nicht für ihre Wünsche.
In der nun folgenden Diskussion ging es hin und her. Nach einiger Zeit wusste keiner der Beiden mehr, worum es ging und was überhaupt der Anlass für ihre Debatte gewesen war. So ging es ihnen häufiger.
Was war passiert? Svenja hatte Jan überhaupt nicht verraten, dass sie es war, die Wünsche hatte. Sie wollte später losfahren. Sie wollte Pause machen und Kaffee trinken. Sie hatte so gesprochen, als ob Jan diese Wünsche hatte und nicht sie. Er sollte ihre Gedanken lesen oder ihr die Wünsche „von den Augen ablesen“, was allerdings mehr ins Reich der Mythen gehört als in ein selbstverantwortliches Miteinanderumgehen.
Wer etwas wünscht oder haben möchte, sollte es auch klar aussprechen. Wünsche äußern, Bedürfnisse mitteilen, gehört zu erwachsenengemäßem, selbstverantwortlichem Verhalten. Ob die Wünsche dann erfüllt werden, das ist dann immer noch ungewiss. Sie können auch abgelehnt werden. Dennoch ist zunächst die Selbstverantwortung stets eine wichtige Grundlage für eine gleichberechtigte Partnerschaft.
Von Ulrike Elbers, Familientherapeutin/Supervisorin – Wuppertal
Veröffentlicht in Westdeutsche Zeitung, WZ, Kolumne: Beziehungen am Samstag 5. Mai 2012