Kinder seelisch kranker Eltern
Als Kinder wussten mein Bruder und ich nur, dass meine Mutter krank war, berichtet Lena als erwachsene Frau. Sie war dann immer müde und schlief tagsüber viel. Sie weinte oft. Saß ruhig und teilnahmslos in der Wohnung. Die Oma kam dann und half der Familie, auch wenn die Mutter in die Klinik musste.
Im Winter und kurz vor Weihnachten war es oft besonders schlimm. Lena fürchtete, dass die Mutter wieder leiden musste. Aber sie sorgte sich auch um ihren Vater, der zur Arbeit ging und die Familie nicht alleine versorgen konnte. Sie sorgte sich um ihren Bruder, der noch jünger war und alles gar nicht verstehen konnte. Lena sorgte sich um alle, nur nicht um sich selbst. Sie hatte ihre kindliche Strategie entwickelt, sich mehr und mehr anzustrengen, damit ihre Eltern wieder glücklich sein konnten. Sie hatte die Verantwortung für das Funktionieren der Familie übernommen und bemühte sich um das seelische und häufig auch um das leibliche Wohl der Eltern – das weiß sie heute als Erwachsene.
So ändern sich oftmals in Familien die Rollenverteilungen – Kinder übernehmen Verantwortung und Aufgaben der Erwachsenen, obwohl sie damit überfordert sind. Denn diese Verantwortung gehört auf keinen Fall zu Kindern. Lena fühlte sich oft sehr allein mit ihren Sorgen und Nöten und konnte sich nur auf sich selbst verlassen. Es war wie eine Zerreißprobe zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und der Krankheit der Mutter. Sie zog sich oft zurück, grübelte über ihre Situation nach und versucht so unauffällig wie möglich zu sein.
Als erwachsene Frau weiß Lena inzwischen, dass sie durch eine harte Schule gegangen ist. Sie hätte auch Hilfe, Kontakte, Trost und Aufmerksamkeit gebraucht. Und sie hätte gerne die Möglichkeit gehabt, dass sie hätte Kind sein dürfen, mit allem Unbeschwerten, ohne frühe Verantwortung und frühes Leid.
Von Ulrike Elbers, Familientherapeutin/Supervisorin – Wuppertal
Veröffentlicht in Westdeutsche Zeitung, WZ, Kolumne: Beziehungen am Samstag 8. Juni 2013